Berufslernende reagieren empört auf Ungerechtigkeiten

Interview: Ruth Schori Bondeli

Die Buchautorin und Dozentin für Ethik, Erika Langhans, steht für das ethische Lernen ohne moralischen Zeigefinger im allgemeinbildenden Unterricht ABU an Berufsfachschulen ein. Ethik hilft, sagt sie, in unserer nicht idealen Welt Ordnung in die Gedanken zu bringen und wohlerwogene Entscheidungen treffen.

Ruth Schori Bondeli (RSB): Ethische Fragestellungen sind – wie die Standards zur Nachhaltigkeit – in der Wirtschaftswelt angekommen. Firmen befassen sich mit dem Entwurf von Codes of Conduct, schärfen mit Projekten zur Corporate Social Responsibility das Verantwortungsbewusstsein aller Beteiligten und pflegen ein sogenanntes Werte-Management. Wie und wo kommen Berufslernende dazu, den Sinn und das Ziel solcher Anstrengungen zu verstehen? Und: Müssen sie das überhaupt?

Erika Langhans (EL): Viele unserer alltäglichen Fragen sind im Kern ethische Fragen, ob wir das wollen oder nicht. Das gilt speziell auch für unser Konsumverhalten – ein Bereich der Wirtschaftsethik, welche du in deiner Frage ansprichst. Mit unseren Lebensmitteln, Kleidern, Smartphones, um nur einige wenige unserer alltäglichen Konsumgüter zu nennen, sind wir auf Gedeih und Verderb mit den Herausforderungen der globalisierten Wirtschaft verstrickt. Foodwaste, Kinder- und Sklavenarbeit, fehlender Zugang zu sauberem Wasser, Armut, Ressourcenverschleiss, Elektroschrott, Verschmutzung der Weltmeere, Klimawandel und Korruption – das alles schwingt bei der Betrachtung der genannten Konsumgüter oder eben der globalisierten Wirtschaft mit. Schauen wir bei dem was wir essen, was wir an Kleidern tragen oder mit welchen Geräten wir kommunizieren genauer hin, so sind wir im Nu mitten in den Debatten um eine nachhaltige (Welt-)Wirtschaftsordnung, nachhaltige Unternehmensführung und Konsumenten- oder Bürgerinnenverantwortung.

Ja, Nachhaltigkeitsstandards, Codes of Conduct und CSR sind heutzutage in aller Munde und das mit gutem Grund. Sie sind aus öffentlichem Druck erwachsen, und zwar, weil es vielen Konsumenten, Entscheidungsträgerinnen der Wirtschaft und Politik, Arbeitnehmenden und eben auch Berufslernenden nicht egal ist, wie sie persönlich und andere oder künftige Menschen auf der Welt leben können oder müssen. Die gerade genannten Phänomene empören uns. Das ist ein relativ verlässlicher Hinweis darauf, dass die Empörten vor verletzten moralischen Normen stehen. Die Kraft dieser Empörung gilt es im Unterricht zu nutzen, sie bedeutet Interesse für und die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Die Ethik kann helfen, Ordnung in die Gedanken hineinzubringen.

Zur Begründung der Wirtschaftsethik im ABU könnte ich natürlich noch viel weiter ausholen, die Kurzformel aber lautet: Wer verantwortungsvoll mitgestalten will, muss eine komplexe Welt verstehen und über spezifische Kompetenzen verfügen, um wohlerwogene Entscheidungen treffen und danach handeln zu können. Ich meine jetzt selbstverständlich nicht eine zu kurz greifende Konsumentenverantwortung, bei der wir Konsumentinnen und Konsumenten für das ganze Elend der Welt verantwortlich gemacht werden, wie wenn wir bei jedem Kauf unsere ausdrückliche Zustimmung zu Ausbeutung von Mensch und Umwelt geben würden. Wir leben in einer nichtidealen Welt, in der viel Unrecht geschieht. An vielem sind wir nicht schuld, aber wir hängen durch die globalisierte Wirtschaft doch irgendwie mit drin. Um mit dieser äusserst unangenehmen Situation zurechtzukommen, gibt es verschiedene Strategien. Bleibt die Ohnmacht als diffuses Gefühl unbearbeitet, wählen viele das Verdrängen. Keiner lebt gerne mit Schuldgefühlen, gegen die nichts getan werden kann. Die angewandte Ethik kann einen sinnstiftenden Beitrag leisten, pragmatisch und verantwortungsvoll mit den gegenwärtigen Widersprüchen zu leben. Die Jungen wollen Verantwortung übernehmen, geben wir ihnen doch bitte die Chance, das zu tun, indem wir ihnen viel mehr Zeit zur Verfügung stellen, sich kritisch mit der Welt auseinanderzusetzen. Sollten wir – um auf deine Einstiegsfrage zurückzukommen – also vielleicht nicht eher fragen, ob wir den jungen Menschen an Berufsfachschulen genügend Zeit zugestehen, sich mit (wirtschafts-)ethischen Fragen zu beschäftigen?

 

RSB: Ethisches Lernen wird gemäss Lehrplan 21 bereits in der Volksschule im Sinn eines Spiralcurriculums vorangetrieben. Welchen Schwerpunkt bzw. welche Schwerpunkte werden klugerweise im ABU der Berufsfachschulen gesetzt? Stehen spezifische Kompetenzen im Zentrum? Oder umgekehrt gefragt: Was gehört nicht zu einem Ethikunterricht an Berufsfachschulen?

EL: Was wir im Ethikunterricht an Berufsfachschulen nicht machen müssen, ist einfach zu beantworten. Wir vermitteln keine Ideengeschichte, verzichten auf eine systematische Darstellung der philosophischen Denkrichtungen und wir können die Metaethik auf der Seite lassen. An Berufsfachschulen arbeiten wir aktualitäts- und themenbezogen sowie handlungsorientiert. Es geht um den Aufbau und das Training von Handlungskompetenzen.

Da es an Schweizer Berufsfachschulen nirgendwo ein Pflichtfach Philosophie oder Ethik gibt, müssen wir von den Fragen unseres Alltags ausgehend ethische Kompetenzen fördern. Für den ABU heisst das, die ethischen Lerninhalte an die übrigen fachlichen Inhalte zu knüpfen. Dieser Auftrag spricht für den Schwerpunkt der angewandten Ethik zu den relevanten Bezugswissenschaften Recht, Politik, Wirtschaft, Ökologie, Technologie, Identität &Sozialisation sowie Kultur. Weiter sind für die Bearbeitung angewandter ethischer Fragen Grundkenntnisse einiger zentraler Prinzipien aus den normativen Theorien wichtig und die einschlägigen Prinzipien mittlerer Reichweite sind unerlässlich. In meiner didaktischen Hausapotheke „Ethikunterricht an Berufsfachschulen – Ein Leitfaden“ findet sich eine kleine Auswahl an ethischem Grundwissen, das für den ABU zentral ist. Im Anhang habe ich eine Liste mit moralischen Fragestellungen erstellt, die sich mit den anderen Aspekten des ABU – oder „ethisch“ ausgedrückt mit den Bezugswissenschaften der Ethik im ABU – verbinden lassen.

Gerne komme ich auf den Lehrplan 21 zurück. Wir können an Berufsfachschulen beruhigt den eingeschlagenen Weg weitergehen, denn er ist mit dem Lehrplan 21 absolut kompatibel. Innerhalb des Fachbereichs Natur, Mensch, Gesellschaft finden wir im Teilbereich Religionen, Kulturen und Ethik folgende fünf Überschriften: Existenzielle Grunderfahrungen reflektieren, Werte und Normen klären und Entscheidungen verantworten, Spuren und Einfluss von Religionen in Kultur und Gesellschaft erkennen, sich mit Religionen und Weltsichten auseinandersetzen, das Leben und Zusammenleben gestalten. Zahlreiche der hier aufgeführten Kompetenzen sind im RLP-ABU und in der heutigen ABU-Praxis bereits zum festen Bestandteil geworden. Vor allem im letzten Teilgebiet sind einige Kompetenzen der Kommunikation und Konfliktbewältigung im Zentrum. Lesen wir die Kompetenzbeschreibungen im Bereich der Ethik, so springen die vielen Sprachhandlungen ins Auge.


Anita Rösch (2012) hat ein Kompetenz-Modell für den Ethik-Unterricht vorgelegt, das an Berufsfachschulen der Schweiz sehr wohl verwendet werden kann – wir müssen es aber auf das reduzieren, was innerhalb der Rahmenbedingungen des Berufsfachschulunterrichts vermittelt werden soll und realistischerweise auch vermittelt werden kann. Ein Abgleich dieser Reduktion für die gesamte ABU-Community wäre m.E. wünschenswert.

Abb. 1

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RSB: Nachhaltiges oder wirkungsvolles Lernen wünschen wir uns alle in allen Bereichen des ABU, auch und gerade aber, wenn es ums Handeln in ethischen Konfliktsituationen geht. Die Fachdidaktik Ethik zeigt womöglich auf, wie bezogen auf problemhaltige (Alltags)Situationen die Wahrnehmung der ethischen Dimension geschärft und die Möglichkeiten einer autonomen ethischen Urteilsbildung erweitert werden können.

EL: Ja, klar, die Fachdidaktik Ethik bietet eine breite Palette an Unterrichtsmethoden, wie Fallbearbeitung, ethische Entscheidungsfindung, Dilemmadiskussion, Gedankenexperiment, Begriffsanalyse, Rollenspiele usw., mit welchen ein innerer moralischer Kompass aufgebaut werden kann. Der ABU stellt in den Schullehrplan-Themen die „Aufhänger“ (Grundlagen aus den Bezugswissenschaften) für moralische Fragestellungen bereit, zu deren Bearbeitung den Lernenden die notwendigen Instrumente zur Verfügung gestellt werden müssen. In der angewandten Ethik gehen wir von Problemstellungen unseres aktuellen (alltäglichen) Lebens aus, um zu den bereits vielzitierten wohlerwogenen Entscheidungen zu kommen, die wir mit unserem Leben in einer nichtidealen Welt verantworten können.

Neben einer guten Fachdidaktik ist aber auch die Zeit ein wesentlicher Faktor für nachhaltiges und wirkungsvolles ethisches Lernen: Wie oft, wie lange über welchen Zeitraum haben die Lernenden Gelegenheit, sich mit Ethik zu befassen? Die Entwicklung der moralischen Urteilskompetenzen braucht vor allem auch Zeit.

RSB: Kannst du Stolpersteine beschreiben, die im ABU im Zusammenhang mit dem ethischen Lernen auftauchen?

EL: Nachhaltiges und wirkungsvolles ethisches Lernen kennt tatsächlich auch Fallgruben und Stolpersteine. Tauchen im Unterricht Widerstände seitens der Lernenden auf, so liegen diese nur selten in einem mangelnden Interesse begründet. Ich beobachte in meiner Praxis andere Quellen der Ablehnung: Einerseits steht da der moralinsaure Zeigefinger, der in einem indoktrinierenden, gängelnden, gesinnungspädagogischen Unterricht zutage tritt. Um zum Beispiel von den jungen Menschen zu verlangen, dass sie ihren Abfall im Schulhaus umweltgerecht entsorgen, haben wir viele gute ökonomische, soziale, ökologische Argumente. Sobald wir von Berufslernenden aber Einsicht, Freiwilligkeit o.Ä. verlangen, sind wir übergriffig. Ob sie ihre PET-Flaschen aus Überzeugung in die richtige Tonne werfen oder nur, weil sie Sanktionen befürchten, muss uns nicht kümmern. Gegen Vorgaben, wie das gute Leben aussieht und wie ethische Entscheidungen für den Einzelnen letztlich konkret auszufallen haben, wehren sich die jungen Menschen zum Glück treffsicher und bisweilen auch recht kreativ. Ethik ist die Kunst, gute Fragen zu stellen. Die Menschen müssen diese im Abgleich mit Normen selber beantworten. Die Ethik gibt als Disziplin keine Antworten und sicher keine konkreten Handlungsanweisungen. Das Wichtigste im Ethikunterricht ist und bleibt daher, dass die Lernenden ihre eigenen Entscheidungen treffen können, ob diese der Lehrperson gefallen oder nicht. Selbstverständlich – und damit kommen wir zu einer weiteren häufigen Ursache von Widerständen im Ethikunterricht – müssen auch die ethischen Lerninhalte an die Lernvoraussetzungen anknüpfen. Werden die Fragen zu abstrakt, zu theoretisch oder kompliziert gestellt, kommt kein Feuer für die Ethik auf. Für den Ethikunterricht gelten dieselben allgemeindidaktischen Erkenntnisse wie für jeden andern Unterricht.

RSB:Ethik ist einer der acht Gesichtspunkte oder Aspekte, unter deren Berücksichtigung die lebensrelevanten Themen der Schullehrpläne im ABU bearbeitet werden. Kritikerinnen und Kritiker bemängeln gerne, dass die Allgemeinbildung in der Berufsbildung überkomplex konzipiert und eine Reduktion der Aspekte dringend angesagt sei. Darf ich die Fachfrau zum Abschluss um ein Plädoyer für den Aspekt Ethik bitten?

EL: Diesen Kritikern stimme ich in der Analyse teilweise zu, jedoch absolut nicht im Rezept. Dass die heutige Welt komplex ist, ist ein Gemeinplatz und es ist nicht zu erwarten, dass sich daran in naher und mittlerer Zukunft etwas ändern wird. Wenn der ABU einen Beitrag dazu leisten soll, dass sich die jungen Menschen in dieser komplexen Welt orientieren und dass sie sich und anderen gegenüber verantwortungsvoll handeln können, dann kann die Lösung nicht darin liegen, einzelne Aspekte aus dem Unterricht zu nehmen. Die Kunst im ABU besteht darin, die Komplexität so zu reduzieren, dass die Welt – durchaus unter wechselnden Gesichtspunkten – in ihrer Komplexität wahrgenommen und verstanden werden kann. Das heisst jetzt nicht, dass die acht Aspekte für mich in Stein gemeisselt sind. Es besteht durchaus Raum für sinnvolle Anpassungen, z. B. die soften Aspekte (Ethik, Kultur, Identität und Sozialisation) transversal zu denken oder die Ökologie dem transversalen Aspekt Nachhaltigkeit zuzuordnen.

Die Kritisierenden sprechen zu Recht auch das Profil an, das ABU-Lehrpersonen brauchen. ABU ist – wie die wirkliche Welt – hochkomplex. Der Aspekt Ethik ist im aktuellen RLP sehr breit und allgemein formuliert, was hohe Anforderungen an die fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Kompetenzen der Lehrpersonen stellt – übrigens nicht nur im Aspekt Ethik. Und niemand kann die fachwissenschaftlichen Grundlagen in allen Aspekten und in beiden Lernbereichen umfassend auf Expertenniveau durchdringen. Dem Problem zu begegnen, indem die Themen und Aspekte reduziert werden, halte ich aber für die falsche Medizin. Die Lehrpersonen benötigen eine fachwissenschaftliche und fachdidaktische Ausbildung, welche durch klarer definierte Inhalte und Kompetenzen in den Lernbereichen und Aspekten unterstützt werden kann. Ganz unabhängig davon, welche Veränderungen die Zukunft des ABU bringen wird, würde ich mir auf alle Fälle wünschen, dass die verbindlichen Inhalte vor allem der transversalen und der soften Aspekte kompetenzorientiert genauer bestimmt werden. Hierzu muss eine saubere Analyse gemacht werden, was vermittelt werden soll und kann. Ich betone das UND. Eine Liste mit frommen Wünschen hilft uns nicht weiter – wir brauchen die Diskussion und eine Positionierung (Reduktion), welche Kompetenzen für die Lernenden bedeutsam und welche innerhalb des Unterrichtssettings realistischerweise auch vermittelbar sind. Ich hoffe sehr, dass ein neuer Rahmenlehrplan ABU hilfreichere Unterstützung zu deiner Frage liefern wird. Derzeit sind jedenfalls vor allem die Ausbildungsinstitutionen gefordert, die fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Grundlagen der ABU-Lehrpersonen in der Ausbildung zu sichern.

In der Lebensphase der Adoleszenz ist es geradezu ein Grundbedürfnis, sich mit der Welt kritisch auseinanderzusetzen, sich darin zu orientieren und zu positionieren. Ethische Fragen sind in diesem Prozess elementar. Fragen nach dem guten Leben, nach Gerechtigkeit, Freiheit, Verantwortung, Autonomie usw. stossen bei jungen Erwachsenen auf grosses Interesse. Ethikunterricht will Menschen befähigen, wohlerwogene Entscheidungen zu treffen und sich selbst und anderen gegenüber verantwortungsvoll zu handeln. Der Ethikunterricht leistet bezüglich dieser Ziele einen wichtigen Beitrag.

Literatur

Langhans, E. (2017). Ethikunterricht an Berufsfachschulen. Ein Leitfaden. Didaktische Hausapotheke Band 6. Bern: hep Verlag.

Langhans, E. (2019). Methoden für den Ethikunterricht. Ein Leitfaden für die Sekundarstufe II. Didaktische Hausapotheke Band 13. Bern: hep Verlag.

Rösch, A. (2012). Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht: Entwicklung eines Kompetenzmodells für die Fächergruppe Philosophie, praktische Philosophie Ethik, Werte und Normen, LER (3.Auflage). Wien: Lit.