Der Unterschied wird kleiner – bleibt aber gross

Der Schweizer Arbeitsmarkt hat sich in den letzten Jahrzehnten zum Teil rasant verändert. Geblieben ist die Tatsache, dass sich junge Frauen und Männer bis heute immer noch für sehr unterschiedliche Berufe entscheiden. Diese geschlechtsspezifische Segregation nimmt zwar ab – das aber nur sehr langsam, wie eine Analyse der EHB für die letzten rund 80 Jahre zeigt.

Von Manuel Aepli, Andreas Kuhn und Jürg Schweri

Frauen sind heute stärker in den Arbeitsmarkt integriert als noch vor ein paar Jahrzehnten. So hat sich der Anteil an weiblichen Beschäftigten bis ins Jahr 2019 laut Bundesamt für Statistik (BFS) auf rund 45 Prozent erhöht. Der Anteil an Frauen mit einem Tertiärabschluss ist in der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen mit 55,4 Prozent inzwischen sogar leicht höher als bei den Männern mit 50,2 Prozent, wie aktuelle Zahlen des BFS zeigen.

Trotzdem wählen Frauen und Männer nach wie vor sehr unterschiedliche Berufe. Dies gilt auch und im Besonderen dann, wenn sich Jugendliche für eine Berufslehre entscheiden. Eine Mehrheit der Lehrberufe wird nach wie vor entweder von einer deutlichen Mehrheit Frauen oder einer deutlichen Mehrheit Männer gewählt, wie verschiedene empirische Studien zur Berufswahl von Jugendlichen zeigen.

Historische Daten zur Anzahl Lehrverhältnisse 

Pinkes Portrait mit zwei Gesichtern auf abstraktem Hintergrund mit Planeten
Illustration von Avril Gabioud, erstes Lehrjahr Fachklasse für Grafik, Schule für Gestaltung und Hochschule für Kunst Wallis
EHB

Wie sich die Berufswahl junger Menschen in den letzten Jahrzehnten verändert hat, ist dank historischer Daten des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation SBFI bis weit ins letzte Jahrhundert zurück gut nachvollziehbar. Die vom SBFI zur Verfügung gestellten Daten zur jährlichen Anzahl der Lehrverhältnisse machen es möglich, für die Zeit von 1935 bis 2018 nachzuverfolgen, wie sich die Berufswahl von Jugendlichen entwickelt hat.

 

Dieser Blick zurück ist aus mehreren Gründen aufschlussreich: Er ermöglicht es, das aktuelle Ausmass an Segregation zwischen den Geschlechtern bei der Berufswahl besser einzuordnen. Zudem können sich aus der historischen Veränderung Hinweise auf die zugrundeliegenden Ursachen ergeben.

Ebenso auffällig ist, dass sich die Frauenanteile je nach Beruf über die Zeit hinweg sehr unterschiedlich entwickelt haben.

Ein kontinuierlicher Rückgang der geschlechtsspezifischen Segregation deutet tendenziell darauf hin, dass sich der Arbeitsmarkt laufend verändert, beispielsweise durch den technologischen oder gesellschaftlichen Wandel.

Das Ausmass der geschlechtsspezifischen Segregation lässt sich beispielsweise auf Basis des Dissimilaritätsindex aufzeigen, der das Ausmass an beruflicher Segregation für jeweils ein Jahr darstellt. Es zeigt sich, dass die geschlechtsspezifische berufliche Segregation zu Beginn der Beobachtungsperiode ausserordentlich stark ausgeprägt war, mit einem Indexwert von rund 0,8 bei einem theoretischen Maximalwert von 1, der für eine vollständig segregierte Berufswahl steht, und einem Minimalwert von 0, der für einen perfekt integrierten Zustand steht.

Es gibt einen eindeutigen und mindestens seit Ende der 1950er-Jahre relativ stetigen Trend über die Zeit hinweg: Die geschlechtsspezifische berufliche Segregation ist zwischen 1935 und 2018 um rund einen Viertel zurückgegangen. Trotzdem ist die Segregation in der Berufswahl von Lernenden noch immer stark ausgeprägt, mit einem Indexwert von circa 0,6. Das heisst: Es müssten immer noch rund 60 Prozent der weiblichen oder männlichen Jugendlichen den Lehrberuf wechseln, um die Unterschiede in der Berufswahl zwischen den Geschlechtern vollständig aufzuheben. Schreibt man den Trend der letzten 60 Jahre fort, wird die Segregation zwar weiter zurückgehen, aber immer noch auf einem relativ hohen Niveau verbleiben. Der Index dürfte bis ins Jahr 2045 einen Wert von circa 0,54 erreichen.

Unterschiedliche Dynamik in verschiedenen Berufen

Die Ursachen für diese beobachteten Veränderungen in der beruflichen Segregation lassen sich anhand dieser Analyse nicht eindeutig feststellen. Der Entwicklung dürfte jedoch ein komplexes Ursachengefüge zugrunde liegen. Technologischer Wandel ist sicherlich eine relevante Erklärungsgrösse, hat sich doch die berufliche Struktur über den Beobachtungszeitraum massiv verändert. So hat unter anderem eine starke Verschiebung hin zu dienstleistungsorientierten Arbeitsstellen stattgefunden. Parallel dazu haben sich die gesellschaftlichen Rollenbilder nachweislich verändert – auch dies hat möglicherweise dazu beigetragen, dass junge Menschen heute etwas weniger häufig eine geschlechtstypische Berufswahl treffen.

Statistik zum Anteil an weiblichen Lernenden in ausgewählten Berufen

Vielfältige Ursachen

Türme aus vielen bunten Bauklötzen und auf jedem Turm ist ein Mensch.
Illustration von Ariana Osorio Suarez, erstes Lehrjahr Fachklasse für Grafik, Schule für Gestaltung und Hochschule für Kunst Wallis
EHB

Wenig erstaunlich verbergen sich hinter der allgemeinen Entwicklung teils sehr unterschiedliche Verläufe in einzelnen Berufen (siehe Grafik).

In den meisten Berufen ist der Anteil weiblicher Lernender deutlich gestiegen. Ebenso auffällig ist allerdings, dass sich die Frauenanteile je nach Beruf über die Zeit hinweg sehr unterschiedlich entwickelt haben. So gibt es einzelne Berufe, die über den gesamten Zeitraum hinweg sehr klar männlich oder weiblich dominiert bleiben, zum Beispiel Schreiner:in oder Florist:in. Andere Berufe, so zum Beispiel Coiffeuse und Coiffeur, weisen hingegen sehr grosse Veränderungen auf. Schliesslich gibt es auch Berufe, in denen der Anteil weiblicher Lernender zurückgegangen ist, so zum Beispiel Detailhandelsfachfrau und Detailhandelsfachmann. Aber diese Berufe stellen eine Ausnahme dar.

  • Dr. Manuel Aepli, Senior Researcher Forschungsfeld Bildungswahl und Lehrstellenmarkt, EHB (bis Ende April 2022)
  • Dr. Andreas Kuhn, Senior Researcher Forschungsfeld Bildungswahl und Lehrstellenmarkt und Senior Lecturer MSc in Berufsbildung, EHB
  • Prof. Dr. Jürg Schweri, Co-Leiter Forschungsschwerpunkt Steuerung der Berufsbildung und Senior Lecturer MSc in Berufsbildung, EHB