Projekt

Stressbedingte psychophysiologische Veränderungen durch immersive Virtual Reality-Technologien in der Berufsbildung

Diese Dissertation untersucht stressbedingte psychophysiologische Veränderungen (z. B. Herzfrequenz und Cortisolspiegel) sowie Korrelate im Gehirn (mittels Elektroenzephalografie) im Zusammenhang mit dem Einsatz von Virtual Reality-Anwendungen und 360-Grad-Videos in der Berufsbildung.

Virtual Reality Klasse mit Berufsbildner:innen
EHB/R. Cosoli

Der Fokus des Schweizer dualen Berufsbildungssystems liegt auf arbeitsbasiertem Lernen (Gonon, 2002). Die Lernenden verbringen drei bis vier Tage pro Woche im Lehrbetrieb, während sie an einem bis zwei Tagen pro Woche an der Berufsfachschule lernen (Gonon, 2005).

Lerntechnologien können den Unterricht durch Simulation beruflicher Situationen aufwerten und Lernenden die Möglichkeit geben, sich im schulischen Kontext Situationen aus der Berufspraxis anzunähern. Für virtuelle Simulationen kommen Virtual Reality-Anwendungen (VR) und 360-Grad-Videos in Frage. Diese Technologien bieten den Vorteil, dass u. a. mit Gefahren behaftete Szenarien wie Rettungseinsätze anders als in der Praxis mehrmals geübt und virtuelle Erfahrungen beliebig oft wiederholt werden können. 360-Grad-Videos geben Real World-Umgebungen wieder und können auf einem HMD-Gerät abgespielt werden, um Lernenden ein immersives Virtual Reality-Erlebnis (IVR) zu ermöglichen (Kavanagh et al., 2016). Mithilfe von 360-Grad-Videos im IVR-Modus können realistische Stress-Szenarien durchgespielt werden, um Lernende zu unterstützen, emotional herausfordernde Situationen zu bewältigen. Stressbewältigung spielt für BerufsanfängerInnen eine zentrale Rolle, da sie in neuen Arbeitssituationen oftmals einem hohen Stressniveau ausgesetzt sind.

Es ist bekannt, dass sich Stress vom Herz-Kreislauf-System über die Atemwege, das Hormonsystem, den Magen-Darm-Trakt, das Nerven- und Muskelsystem bis hin zu den Fortpflanzungsorganen auf sämtliche Körpersysteme auswirkt (Chu et al., 2021). Stress ist ein psychophysiologisches, multidimensionales Phänomen, das zu drei Arten von Reaktionen führt: zu psychologischen, verhaltensbezogenen und physiologischen Reaktionen (Giannakakis et al., 2019). Aufgrund der Vielzahl an Faktoren erfordert die akkurate Stressmessung einen multimodalen Ansatz (Carneiro et al., 2012). Um stressbedingte physiologische Veränderungen zu identifizieren, können verschiedene Körpersignale untersucht werden, z. B. mittels Elektrokardiogramm (EKG), elektrodermaler Aktivität (EDA) und Elektroenzephalogramm (EEG) (Ladakis & Chouvarda, 2021). Darüber hinaus können biochemische Indikatoren wie der Cortisolspiegel im Speichel als bekanntester Stress-Biomarker erfasst werden, der sich in stark stressbelasteten Notfallsituationen als wertvolles Beurteilungsinstrument erwiesen hat (Balters et al., 2020).

In dieser Dissertation legen wir den Fokus auf den Einsatz virtueller Simulationen, um Lernende auf für die Berufspraxis relevante Stress-Situationen vorzubereiten. Die den geplanten Studien zugrunde liegende Forschungsfrage lautet, wie sich Lerntechnologien – insbesondere IVR – auf die Fähigkeit der Lernenden zur Stressbewältigung auswirkt, wobei Stress durch Messung psychophysiologischer und neurowissenschaftlicher Veränderungen identifiziert wird. Die Studien werden in folgender Reihenfolge durchgeführt:

  1. Eine systematische Review-Studie welche Untersuchungen von psychophysiologischen oder neurowissenschaftlichen Messungen beim Einsatz von IVR im Bildungsbereich beinhaltet.
  2. Eine vorläufige Feldstudie, welche mit angehenden Rettungskräften unter Notfallbedingungen durchgeführt wird. Mithilfe von 360-Grad-Videoaufnahmen einer simulierten Strassenrettung wird ein interaktives 360-Grad-Lernvideo entwickelt. Das Video wird von Lernenden auf HMD-Geräten abgespielt. Dabei werden psychophysiologische Veränderungen wie die Herzfrequenz und der Cortisolspiegel im Speichel gemessen. Das Ziel der Studie ist es, die psychophysiologische Aktivierung durch eine Simulation in der realen Welt mit der beim Betrachten eines 360-Grad-Videos mit IVR zu vergleichen. Die Hypothese lautet, dass in beiden Situationen ähnliche Stresslevel aktiviert werden. Sollte sich diese Hypothese bestätigen, könnten wir auf Grundlage dieser Erkenntnis IVR in der Berufsbildung als Trainingstool für stressbelastete Situationen einsetzen.
  3. Eine Laborstudie, um herauszufinden, wie sich das Betrachten eines 360-Grad-Videos (beobachtende Rolle) auf die Emotionen der Lernenden auswirkt, indem ihr Stresslevel anhand psychophysiologischer (Herzfrequenz und Cortisolspiegel im Speichel) und neurowissenschaftlicher Messungen (EEG) erfasst wird. Ziel dieser Studie ist es festzustellen, ob sich von einer Lehrperson gezeigte Emotionen auf die Lernenden übertragen (emotionale Spiegelung). Die Hypothese lautet, dass die Teilnehmenden beim Betrachten eines 360-Grad-Videos mit einer Lehrperson, die ein hohes Stresslevel zeigt, selbst gestresster sind, als wenn sie eine Lehrperson mit geringem Stresslevel beobachten.

Alle drei Studien verfolgen einen multimodalen Ansatz zur Beurteilung von Stress (durch Selbsteinschätzung anhand einer Skala, sowie durch psychophysiologische und neurowissenschaftliche Messungen) und bauen aufeinander auf.

Diese Dissertation soll die Chancen und Auswirkungen von 360-Grad-Videos und IVR auf die Emotionen von Lehrpersonen und Lernenden aufzeigen, um ihr Potenzial für die Berufsbildung insbesondere mit Blick auf die Stressbewältigung ausschöpfen zu können.

Quellenangaben

Balters, S., Geeseman, J. W., Tveten, A. K., Hildre, H. P., Ju, W., & Steinert, M. (2020). Mayday, Mayday, Mayday: Using salivary cortisol to detect distress (and eustress!) in critical incident training. International Journal of Industrial Ergonomics, 78, 102975.

Carneiro, D., Castillo, J. C., Novais, P., Fernández-Caballero, A., & Neves, J. (2012). Multimodal behavioral analysis for non-invasive stress detection. Expert Systems with Applications, 39(18), 13376-13389.

Chu, B., Marwaha, K., Sanvictores, T., & Ayers, D. (2021). Physiology, stress reaction. In StatPearls [Internet]. StatPearls Publishing.

Giannakakis, G., Grigoriadis, D., Giannakaki, K., Simantiraki, O., Roniotis, A., & Tsiknakis, M. (2019). Review on psychological stress detection using biosignals. IEEE Transactions on Affective Computing, 13(1), 440-460.

Gonon, P. (2005). Challenges in the Swiss vocational education and training system. Berufs-und Wirtschaftspädagogik online, 7.

Gonon, P., & St, H. (2002). Arbeit, Beruf und Bildung. Bern: hep.

Kavanagh, S., Luxton-Reilly, A., Wüensche, B., & Plimmer, B. (2016, November). Creating 360 educational video: A case study. In Proceedings of the 28th Australian conference on computer-human interaction (pp. 34-39).

Ladakis, I., & Chouvarda, I. (2021). Overview of biosignal analysis methods for the assessment of stress. Emerging Science Journal, 5(2), 233-244.

Methode

Diese Dissertation verfolgt einen multidisziplinären, multimethodischen Ansatz und beleuchtet psychologische Variablen, psychophysiologische Veränderungen, Korrelate im Gehirn, Variablen im Zusammenhang mit dem Einsatz von Lerntechnologien sowie die Auswirkungen dieser Faktoren auf den Bildungskontext.