Vom Gymnasium in die Lehre? Durchlässigkeit zwischen beruflicher Grundbildung und Gymnasium

Der Übertritt in die Sekundarstufe II ist mit der Entscheidung zwischen einer berufsbildenden und allgemeinbildenden Ausbildung verbunden. Fortan sind die Jugendlichen auf zwei getrennten Bildungspfaden unterwegs. Eine Umkehr vom eingeschlagenen Ausbildungsweg ist mit Hürden verbunden. Welche Herausforderungen stellen sich an dieser Schnittstelle?

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Die Berufliche Grundbildung und der gymnasiale Bildungsgang sind die zwei am häufigsten eingeschlagenen Bildungswege auf der Sekundarstufe II (vgl. Abb. 1). Die Verteilung der Jugendlichen auf die zwei Bildungswege ist seit langem stabil (SKBF, 2018). Die Maturitätsquoten unterscheiden sich allerdings kantonal stark. Dies ist weniger mit kantonalen Leistungsunterschieden der Schulabgängerinnen und Schulabgänger zu erklären, als mit unterschiedlichen kantonalen Aufnahmepraktiken (SKBF, 2018).

Ausbildungswahl auf der Sekundarstufe II
Abbildung 1: Ausbildungswahl auf der Sekundarstufe II. (BFS, 2020

In Kantonen mit hoher Maturitätsquote gelangen daher auch mehr Jugendliche in die Gymnasien, deren Kompetenzprofil für beide Bildungswege geeignet und weniger stark auf ein Hochschulstudium ausgerichtet ist. Diese dürften auch eine höhere Tendenz zeigen, sich umzuorientieren – sei es, indem sie das Gymnasium vorzeitig ohne Abschluss verlassen oder indem sie nach dem Gymnasium nicht in ein Hochschulstudium übertreten, sondern den Weg in die Berufsbildung suchen. Die Berufsbildung kann eine attraktive Ausbildungsoption für Gymnasiastinnen und Gymnasiasten darstellen, weshalb die Durchlässigkeit zwischen der Berufsbildung und dem Gymnasium optimal ausgestaltet sein sollte. Als Beispiel für eine hohe Durchlässigkeit zwischen dem allgemeinbildenden und berufsbildenden System sei Deutschland genannt - mit einer hohen Maturitätsquote (32%) (Destatis, 2019). Gemäss Daten des Nationalen Bildungpanels planen rund 16% der Schulabgängerinnen und Schulabgänger nach dem Gymnasium (allgemeine Hochschulreife) anstelle eines Studiums eine Ausbildung zu absolvieren (Schnitzler, 2019).

Zahlen zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Gymnasium

Zahlen des BFS belegen, dass das vorzeitiges Ausscheiden aus dem Gymnasium derzeit eine Seltenheit ist (vgl. Abb. 2).

Eintrittskohorte 2012 auf Sekundarstufe II
Abbildung 2: Eintrittskohorte 2012 auf Sekundarstufe II: Erfolg über sechs Jahre nach Eintrittsausbildung und Abschluss, in %, BFS (2019)

Gemäss den Längsschnittdaten des BFS (2016) liegt die kumulierte Umorientierungsquote über die vier gymnasialen Bildungsjahre im schweizerischen Durchschnitt bei 7.6%. Es bestehen jedoch beträchtliche Unterschiede zwischen den Kantonen: Während im Kanton Aargau fast alle Schüler und Schülerinnen das Gymnasium abschliessen, bricht im Kanton Genf rund die Hälfte die Ausbildung ab (SKBF, 2014). Wieviele Gymnasiastinnen und Gymnasiasten davon in eine berufliche Grundbildung mit Berufsmaturität wechseln, konnte erstmals mit der Eintrittskohorte 2011 ermittelt werden. Das BFS hat für diese sowie die Kohorte 2012 den Bildungsverlauf bis sechs Jahre nach Eintritt verfolgt. Von den Schülerinnen und Schülern, die demnach 2011/12 in ein Gymnasium eingetreten sind, haben rund 6% bzw. 5% als Erstabschluss auf Sekundarstufe II nicht die Matura, sondern ein 3- oder 4-jähriges EFZ abgeschlossen (vgl. Abb. 2), wobei sich die Zahl tendenziell noch erhöhen dürfte, wenn man den Beobachtungszeitraum um weitere zwei Jahre ausdehnt und allenfalls die jeweils 2% in Ausbildung noch dazu addiert.

Wird das Gymnasium vorzeitig abgebrochen, ist das sowohl aus Sicht von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten als auch der Gesellschaft ein Verlust: Für die Jugendlichen verlängert sich die Bildungszeit und für die Gesellschaft entstehen höhere Bildungskosten (SKBF, 2014). Dieser Effizienzverlust könnte verringert werden, wenn die am Gymnasium erworbenen Bildungsleistungen an eine berufliche Grundbildung mit Berufsmaturität angerechnet würden.

Allerdings sind formale Wege von der Allgemeinbildung in die berufliche Grundbildung und in die höhere Berufsbildung bisher institutionell noch kaum vorgesehen. Umgekehrt ist die Durchlässigkeit von der Berufsbildung in die Allgemeinbildung mit der Berufsmaturität und Passerellen / Ergänzungsprüfungen zur Erreichung der Hochschulzulassung bereits seit Jahren institutionalisiert.

Eine höhere Durchlässigkeit von der Allgemeinbildung in die Berufsbildung hätte gemäss Oesch (2017) nebst der Attraktivitätsteigerung der Berufsbildung weiter den Vorteilder Korrekturmöglichkeit der getroffenen Bildungsentscheidung ohne erhebliche persönliche und gesellschaftliche Kosten und der individuellen Förderung, indem unterschiedliche Leistungs- und Interessenentwicklungen im Jugendalter Berücksichtigung finden.

Im Folgenden werden daher die bestehenden Möglichkeiten, vom Gymnasium in die Berufsbildung zu wechseln, genauer betrachtet. Es wird aufgezeigt, wie am Gymnasium erworbene Bildungsleistungen an eine berufliche Grundbildung angerechnet werden können, bzw. welche Herausforderungen sich dabei aktuell noch stellen. Dabei wird

  1. die Anrechnung von am Gymnasium erworbenen Bildungsleistungen an eine Berufslehre mit Berufsmaturität beim vorzeitigen Ausscheiden aus dem Gymnasium thematisiert und
  2. die Möglichkeit nach erfolgreichem Abschluss des Gymnasiums in eine berufliche Grundbildung (oder die höhere Berufsbildung) überzutreten, diskutiert.

Anrechnung von am Gymnasium erworbenen Bildungsleistungen an eine Berufslehre mit Berufsmaturität bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Gymnasium

Bisher gelten bei der Lehrstellensuche für vorzeitig aus dem Gymnasium ausgeschiedene Personen die gleichen Bedingungen wie für Schulabgängerinnen und Schulabgänger der Sekundarstufe I (BIZ ZH, 2018). Mit anderen Worten: Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, die das Gymnasium vorzeitig abbrechen, werden gegenwärtig keine Bildungsleistungen an die Berufsmaturitätsausbildung angerechnet, und zwar unabhängig davon, in welchem Jahr der Abbruch erfolgt. Dass hier Handlungsbedarf besteht, hat der Kanton Zürich erkannt und im Jahr 2018 eine Pilotstudie in Auftrag gegeben. Die Studie hat die Lehrpläne von ausgewählten Gymnasien mit dem kantonalen Lehrplan Berufsmaturität verglichen und kam zum Schluss, dass «eine Anrechnung aufgrund des Vergleichs der im kantonalen Lehrplan Berufsmaturität beschriebenen fachlichen Kompetenzen und Konkretisierungen mit den Zielen und Inhalten in den Lehrplänen der ausgewählten gymnasialen Maturitätsschulen problematisch ist» (Salzmann & Tsandev, 2018). Ein wichtiger Grund dafür ist, dass die Ziele und Inhalte in den Lehrplänen der Gymnasien insgesamt viel weniger detailliert beschrieben sind als die Kompetenzen im Lehrplan Berufsmaturität. Die Autorinnen der Studie halten daher fest, dass für eine Anrechnung von Bildungsleistungen alternative Vorgehen wie beispielsweise eine detaillierte Einschätzung durch Fachexpertinnen und Fachexperten zu erwägen sind. Gemäss Cortina (2003) funktioniert der Übergang von der einen zur anderen Ausbildungart nur dann „wenn keine oder nur geringe qualitative Unterschiede im Curriculum der Schularten bestehen“ (Cortina, 2003, S. 132, zit. in Kost, 2018, S. 31).

Damit bleibt die Frage offen, wie qualitativ unterschiedlich die Curricula von Gymnasium und Berufsmaturitätsschule tatsächlich sind und ob die Variante einer Anrechnung zu Gunsten einer erhöhten horizontalen Durchlässigkeit nicht eingehender überprüft werden sollte. Dies müsste mitunter in beide Richtungen geschehen. Also auch dahingehend, als dass eine Anrechnung von BM-Leistungen bei Lehrvertragsauflösung EFZ an den gymnasialen Bildungsgang erwogen werden sollte.

Verkürzte berufliche Grundbildung nach abgeschlossener gymnasialer Maturität

Bereits erworbene Bildungsleistungen am Gymnasium können bisher nur dann an eine berufliche Grundbildung angerechnet werden, wenn die Matura bestanden wurde. Erst im Anschluss daran haben Maturandinnen und Maturanden die Option, eine verkürzte berufliche Grundbildung zu absolvieren oder aber – zumindest vom Kanton Zürich und Kanton Bern bekannt – vom allgemeinbildenden Unterricht sowie dessen Prüfungen dispensiert zu werden (RKZ, 2014; BIZ next, 2018a (ob die Anrechnungspraxis zum allgemeinbildenden Unterricht in allen anderen Kantonen gleich angewendet wird, müsste näher untersucht werden).

In einer verkürzten Berufslehre holen sich die jungen Erwachsenen in zwei statt drei bzw. in drei statt vier Jahren das eidgenössische Fähigkeitszeugnis EFZ und sichern sich damit den Einstieg in die Arbeitswelt und zusammen mit der (gymnasialen) Matura den direkten Zugang an eine Fachhochschule (vgl. Abb. 3). Das ursprünglich vom Branchenverband SWISSMEM ins Leben gerufene Programm- «way-up» ist gegenwärtig für folgende Berufe verfügbar: Automatiker/in, Elektroniker/in, Informatiker/in, Konstrukteur/in, Polymechaniker/in und Mediamatiker/in und Kaufmann/Kauffrau. In Zug und Bern kann zusätzlich die Lehre Zeichner/in verkürzt absolviert werden.

Way up Programm
Abbildung 3: Way up Programm (in Anlehnung an Kanton Zug, 2019)

Das Programm zeigt, dass es bereits heute möglich ist, am Gymnasium erworbene Bildungsleistungen anzurechnen. Der Weg übers Gymnasium (mit abgeschlossener Maturität) in eine berufliche Grundbildung wird aktuell noch selten genutzt (BFS, 2018, S. 7).

Zu den anderen Möglichkeiten, die es nebst des verkürzten EFZ für Maturandinnen und Maturanden noch gibt, existieren gegenwärtig keine gesamtschweizerischen Kennzahlen. Maturandinnen und Maturanden können nämlich auch direkt in die Berufswelt einsteigen. In den Branchen Wirtschaft, Handel, Verwaltung, Verkehr, Tourismus und Sicherheit gibt es Ausbildungen (zumeist on-the-job), die zu branchenzertifizierten Abschlüssen – allerdings nicht zu einem EFZ oder einer höheren Berufsbildung – führen (BIZ next, 2018b).

Es wären daher abzuwägen, inwieweit branchenzertifizierte Ausbildungen eine wünschenswerte Option für die Zielgruppe der Maturandinnen und Maturanden darstellen, oder ob entsprechende flexible und verkürzte formale Bildungswege im Berufsbildungssystem geschaffen werden sollten.

Fazit: In Durchlässigkeit investieren

Während für den Weg in die Berufsbildung bei bestandender Matura bereits Möglichkeiten existieren, führt für Gymnasiastinnen und Gymnasiasten bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Gymnasium noch kein verkürzter Weg zu einem EFZ (mit oder ohne Berufsmaturität). Es wäre daher zu prüfen, wie die Anrechnung von gymnasialen Bildungsleistungen (ohne Matura) an eine berufliche Grundbildung mit Berufsmaturität in Zukunft ermöglicht werden könnte.

Voraussetzung dafür wäre, die Bildungspläne sowie die Lehrpläne der Gymnasien und Berufsmaturitätsschulen konsequent kompetenzorientiert auszurichten und curricular so zu gestalten, dass gezielte Anrechnungsmöglichkeiten festgestellt werden können, um Erlerntes zu identifizieren und entsprechende Bildungsinhalte in der jeweiligen Ausbildung zu erlassen (Hemkes, 2019).

Eine hohe Durchlässigkeit in beiden Richtungen zwischen Gymnasium und beruflicher Grundbildung mit Berufsmaturität dürfte der Attraktivität des ganzen Bildungssystems zu Gute kommen.

Weiterführende Fragen:

  • Wie kann die Durchlässigkeit Gymnasium-berufliche Grundbildung weiter erhöht werden? Wie können insbesondere gymnasiale Lernleistungen nach Umorientierung adäquat an eine berufliche Grundbildung mit Berufsmaturität angerechnet werden und vice versa?
  • Wie kann die Selektion bzw. Passung beim Eintritt Sekundarstufe II verbessert werden, insbesondere in den Kantonen, die eine sehr hohe Gymnasialquote und gleichzeitig eine hohe Abbruchquote ausweisen?
  • Wie reagiert die Wirtschaft auf Bewerbungen von vorzeitig ausgetretenen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten? Welche Chancen haben diese im Vergleich zu Bewerbungen von qualifizierten SEK-1 Absolvierenden?

Literatur

BFS (2016). Längsschnittanalysen im Bildungsbereich. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik.

BFS (2018). Bildungsverläufe auf Sekundarstufe II. Längsschnittanalysen im Bildungsbereich. Ausgabe 2018. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik.

BFS (2019). Eintrittskohorte 2012 auf Sekundarstufe II: Erfolg über sechs Jahre nach Eintrittsausbildung und Abschluss, in %. Verfügbar unter: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/ue... (20.07.2020).

BFS (2020). Ausbildungswahl auf der Sekundarstufe II. 1990/91 – 2018/19. Verfügbar unter: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bi... (20.07.2020).

Bildungsdirektion Kanton Zürich [BIZ ZH] (2018). Gymnasium abbrechen – wie weiter?. Zürich: BIZ.

BIZ next (2018a). Die verkürzte Lehre. Informationen für gymnasiale Maturandinnen und Maturanden. Verfügbar unter: https://www.biz.erz.be.ch/biz_erz/de/index/ueber_uns/merkblaetter.assetr... (21.10.2019).

BIZ next (2018b). Direkter Berufseinstieg nach dem Gymnasium. Alternativen zum Hochschulstudium. Verfügbar unter: https://www.biz.erz.be.ch/biz_erz/de/index/ueber_uns/merkblaetter.assetr... (20.10.2019).

Destatis (2019). Statistisches Jahrbuch 2019. Kapitel 3 Bildung. Verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Jahrbuch/jb-bildung.html (01.11.2019).

Hemkes, B. (2019). Angebote der Berufsbildung für Studienaussteigende. BWP – Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, 5, 43-47.

Kanton Zug (2019). Way up plus – Ausbildung für Maturanden. Verfügbar unter: https://www.zg.ch/behoerden/volkswirtschaftsdirektion/amt-fur-berufsbild... (23.10.2019).

Kost, J. (2018). Erreichte und verpasste Anschlüsse – Zur Durchlässigkeit der Schweizer Sekundarstufe II. In K. Jenewein, M. Friese & G. Spöttl (Hrsg.), Reihe Berufsbildung, Arbeit & Innovation, Band 47. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag.

Oesch, D. (2017). Potenzielle und realisierte Durchlässigkeit in gegliederten Bildungssystemen. Eine lokalsturkturelle Übertrittsanalyse in zwei Schulsystemen. Wiesbaden: Springer.

Regierungsrat Kanton Zürich [RKZ] (2014). Auszug aus dem Protokoll des Regierungsrates des Kantons Zürich. Sitzung vom 26. Februar 2014. 210. Anfrage Praxis-Alternativen für Maturanden, die nicht studieren.

Salzmann, P. & Tsandev, E. (2018). Standardisierung der Anrechnung von Bildungsleistungen im Kanton Zürich. Schlussbericht Projekt B. Zollikofen: Eidgenössisches Hochschulinstitut für Berufsbildung

Schnitzler, A. (2019). Abi und dann? Was Gymnasiastinnen und Gymnasiasten zur Aufnahme einer beruflichen Ausbildung bewegt. BWP – Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, 1, 15-19.

SKBF (2014). Bildungsbericht Schweiz 2014. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung.

SKBF (2018). Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung.