Die Suche nach einem didaktischen Kompass

Zu ihrem 50-jährigen Bestehen wartet die EHB mit einem Sammelband zur Berufsbildungsdidaktik auf. Angesichts des aktuellen tiefgreifenden Wandels in der Berufsbildung und im Unterrichtsalltag zeigen die Beiträge anregende Perspektiven auf. Unter anderem mit dem Situationsbegriff, der im Zentrum der von der EHB angestrebten offenen Didaktik steht.

Frau mit Laptop auf Büchern
Fotografie von Claudio Hetzel, Abschlussjahr Lehrgang Gestalter:in HF Fotografie, Schule für Gestaltung St. Gallen

Von Gianni Ghisla

Die Bedeutung von Fachwissen ist ebenso Thema wie die Rolle der Lehrkraft: Im Jubiläumsband zum 50. Geburtstag sind Beiträge aus der theoretischen und praktischen Arbeit an der EHB vereint. Sie widerspiegeln die sprachliche und kulturelle Vielfalt der schweizerischen Berufsbildung, bringen zugleich aber auch die Suche nach einer gemeinsamen Begrifflichkeit und Orientierung zum Ausdruck. Die Berufsbildungsdiskussion ist sehr breit geworden. In Theorie und Praxis werden Themen besetzt, die weit über den Horizont der eigentlichen Didaktikfragen hinausgehen und den epochalen gesellschaftlichen Wandel aufgreifen. Bei vielen Akteurinnen und Akteuren in der Bildung, vorab bei Lehrer:innen, hat dies mitunter zu einer Verunsicherung geführt, was das Bedürfnis nach überzeugenden Anhaltspunkten und nach einem didaktischen Kompass nachvollziehbar macht.

50 Jahre Methodik und Didaktik

Zeitlich fällt die EHB-Geschichte mit der Intensivierung der Bildungsdiskussion und der Realisierung umfassender Schulreformen zusammen. Die methodische Lehrkräfteausbildung wurde sofort ab Gründung des Schweizerischen Instituts für Berufspädagogik SIBP im Jahr 1972 zum Kerngeschäft der EHB. Eine breitere Auseinandersetzung zur Pädagogik und Didaktik der Berufsbildung begann aber erst im Laufe der 80er-Jahre und entfaltete sich richtig nach der Jahrtausendwende. 

Inhaltlich lässt sich die didaktische Reflexion und Produktion grob in drei Bereiche einordnen, deren Grenzen fliessend sind: Es ging um didaktische Konzepte, bereichs- und gegenstandspezifische Methoden sowie Rezepte und didaktische Ratschläge. Methoden, die leicht zu vermarkten sind, und vor allem Rezepte, die den Lehrkräften Tipps für eine ruhigere Unterrichtsnavigation vermitteln, fanden alsbald bemerkenswerten Anklang, vor allem in der deutschen Schweiz, wo sich SIBP-Autorinnen und -Autoren zu profilieren vermochten. Aber gerade am SIBP war die Stimme jener deutlich hörbar – etwa jene der Dozenten Peter Füglister und Hans Kuster –, die anmahnten, wie eine Didaktik, die sich auf Rezepte konzentriert, zwar erfolgreich sein, jedoch auch schnell ihre Glaubwürdigkeit verlieren könne. Hingegen gelte es, eine umfassende Didaktik zu erarbeiten, die das Wirken im Unterricht zu klären und theoretisch zu ergründen vermag, um damit den Lehrkräften zu einem selbstbewussten und autonomen Handeln zu verhelfen. In eine solche Denkperspektive und den aktuellen Zeitgeist eingebettet, entstanden ab den 90er-Jahren kompetenz- und handlungsorientierte Ansätze, die curricular und didaktisch die Berufsbildung zu prägen begannen.

Didaktik und Situationen

Buchcover
Neuerscheinung
Ghisla, G., Boldrini, E., Gremion, Ch., Merlini, F. & Wüthrich, E. (2022). Didaktik und Situationen. Ansätze und Erfahrungen für die Berufsbildung. Bern: hep. (erscheint Ende Mai 2022)

Zu diesem Verständnis einer umfassenden Didaktik passen die Beiträge des Jubiläumsbands. Ihr gemeinsamer Nenner liegt in der Suche nach einem kohärenten didaktischen Rahmen, der erstens die angedeutete Vielfalt aufzufangen vermag und zweitens dem didaktischen Handeln in der Schule, den überbetrieblichen Kursen und im Betrieb eine kohärente Orientierung zu geben versucht, welche die berufliche Identität der Lehrkräfte fördert.

 

In drei Teilen sind Texte zu den didaktischen Konzepten und ihrer theoretischen Begründung, zu spezifischen Fragen und schliesslich zu Praxiserfahrungen enthalten. Dass die Artikel von EHB-Mitarbeitenden aus den drei Landesteilen stammen, ist ein bereicherndes Novum, das den Dialog fördert. Worauf setzt die angestrebte Didaktik? Hauptsächlich auf den Begriff der Situation. Dieser kann zwar zu unterschiedlichen Konzepten führen, so etwa ausgehend von der französischsprachigen Kultur. Geht es indes spezifisch um die Situationsdidaktik, so profiliert sich diese dadurch, dass sie Begriffe und Erfahrungen aus der deutsch- und der französischsprachigen, aber auch der angelsächsischen Tradition aufnimmt. Situationsdidaktik bietet sich als eine Art Grammatik des unterrichtlichen Handelns an, die situationsgerecht und individuell umsetzbar ist. Dank ihrer Offenheit kann sie wichtige Anliegen und Herausforderungen theoretisch fundiert und praxisgerecht aufnehmen.

Wie lässt sich Lernen auf Basis einer kritischen, konstruktiven und erkenntnisgeleiteten Aufarbeitung von Erfahrung und Fachwissen gestalten? Diese Frage ist im Buch ebenso Thema wie die Rolle, welche die Lehrkräfte dabei im Spannungsfeld zwischen der notwendigen Vermittlung von Wissen und einer sinnvollen Lernbegleitung wahrnehmen. Dabei werden Nutzen und Vorteile des Situationsbegriffs diskutiert und man geht der Frage nach, wie sich die Vielfalt an Methoden, technologischen Hilfsmitteln und Rezepten lern-, inhalts- und kompetenzgerecht im Unterrichtsalltag anwenden lässt. So betrachtet wird Didaktik in Theorie und Praxis zur womöglich wirkungsmächtigsten Herausforderung für die Zukunft der Berufsbildung.

 

  • Gianni Ghisla, PhD, Projektleiter für die Herausgabe des EHB-Jubiläumsbands und langjähriger Mitarbeiter in verschiedenen Sparten der EHB

Eine französisch- und eine italienischsprachige Ausgabe des Werks sind in Planung.

Weitere Beiträge zum Buch online lesen

Das Buch wird mit Onlinebeiträgen ergänzt. Unter anderem sind dies Beiträge zu digitalisierten Unterrichtsformen, zum bilingualen Berufskundeunterricht, zum Unterricht in den angewandten Künsten und zur Situationsanalyse als Einstieg in den Unterricht für angehende Lehrkräfte.