Wie sich die Idee des lebenslangen Lernens entwickelt hat

Von den Gesellenbruderschaften über die politischen und philosophischen Ansätze des 18. Jahrhunderts und von der Weiterbildung während des wirtschaftlichen Aufschwungs der Nachkriegszeit bis hin zur Lissabon-Strategie: ein Blick zurück auf das lebenslange Lernen angesichts aktueller und künftiger Herausforderungen.

Illustration Lara Casadei
Illustration von Lara Casadei, Atelier für Drucktechnik, Centro scolastico per le industrie artistiche (CSIA), Lugano
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Von Patrick Rywalski, Susanne Bergius und Laura Perret

In der Zeit, in der Kathedralen gebaut wurden, schlossen sich die Gesellen beruflichen Verbindungen an und wurden unter der Obhut eines Meisters in der Kunst und im Handwerk geschult. Nach sechsjähriger Ausbildung fertigte ein Steinmetz dann ein eigenes Gesellenstück an und wurde in die Gesellenbruderschaft aufgenommen. Danach zog er von Baustelle zu Baustelle und legte aufgrund seiner Erfahrung und seines nachgewiesenen Talents eine letzte Prüfung ab, um den Meistertitel zu erlangen. Die Ausbildung erfolgte durch die Ausübung des Handwerks.

Historisch wurzelt die Idee des lebenslangen Lernens in der Lehre von Johann Amos Comenius (1592–1670), der das ganze Leben von der Wiege bis zur Bahre als Schule verstand. Die Schulen für Kinder lagen in der Nähe der Wohnquartiere und die Universitäten in den grossen Städten. Im Erwachsenenalter sollten dann alle ihr Leben selbst gestalten. Im 18. Jahrhundert rief der Philosoph Immanuel Kant in seinem Aufsatz zur Aufklärung dazu auf, sich nicht bevormunden zu lassen, sich von der Autorität der Älteren, der Lehrer und Ärzte zu lösen und sich beim Streben nach Freiheit des eigenen Verstandes zu bedienen.

1791 übernahm Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat, bekannt als Marquis de Condorcet, diesen Ansatz in «Les cinq mémoires sur lʼinstruction publique» («Die fünf Memoiren über die öffentliche Bildung»), wonach die Chance, sich auszudrücken und eine mündige Bürgerin beziehungsweise ein mündiger Bürger zu werden, allen zustand. So wurde die Erwachsenenbildung zu einer politischen Priorität. Schulen für Erwachsene wurden eröffnet. Mitte des 19. Jahrhunderts folgte die Schulpflicht für Kinder und schliesslich entstanden Schulen, um Lehrkräfte auszubilden.

In Genf wurde 1824 die erste Uhrmacherschule gegründet. Die sogenannte formale Bildung entwickelte sich. Parallel dazu forderte Jean Joseph Jacotot 1841 in «Enseignement universel» («Universale Bildung») die Emanzipation der Menschen ausgehend von der Erkenntnis, dass Intelligenzen gleichwertig sind und sich alle ohne Lehrperson selbst Wissen aneignen können. Heute spricht man von informeller Bildung. Zwei Denkweisen zielten also auf das Gleiche ab: eine Art Emanzipation des Menschen. Doch die Mittel dazu waren unterschiedlich: Condorcet legte den Schwerpunkt auf die Schulbildung, Jacotot auf die ausserschulische Erfahrung.

Das Kulturbewusstsein fördern

Labyrinth mit Statuen
Illustration von Valentina Ghirlanda, Atelier für Drucktechnik, Centro scolastico per le industrie artistiche (CSIA), Lugano
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Der Zwiespalt zwischen dem Anspruch, die kulturelle Entwicklung der Bevölkerung zu fördern und den Anforderungen der Industrie gerecht zu werden, zeigte sich in allen Bildungssystemen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs veranlasste das Ideal des Friedens europäische Länder dazu, das Bewusstsein der Bevölkerung für Kultur zu schärfen. Zahlreiche Organisationen förderten die Alphabetisierung, die Persönlichkeitsentwicklung und vieles mehr. Im Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit wurden Arbeiter/-innen, Angestellte und Führungskräfte immer spezialisierter ausgebildet, was ihnen den Zugang zu höheren Positionen ermöglichte. Berufliche Mobilität kann somit nicht nur unternehmens-, sondern auch personenbezogen definiert werden. Begriffe wie das lebenslange Lernen oder Weiterbildung unterstreichen diese Idee des fortlaufenden Lernens nach der obligatorischen Schulzeit.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1945 gab die UNESCO der Erwachsenenbildung absolute Priorität. Nach der Erfahrung des Totalitarismus galt Bildung als grundlegend für den Aufbau neuer demokratischer Gesellschaften und als notwendiges Instrument, um die Jugend «umzuerziehen», so die Wissenschaftlerin Maren Elfert in einem Essay. Erwachsenenbildung und Bildung allgemein wurden als Einheit verstanden.

Nach der Erfahrung des Totalitarismus galt Bildung als grundlegend für den Aufbau neuer demokratischer Gesellschaften.

In den 1960er- und 1970er-Jahren herrschte in der Bildung ein rationalistischer, technokratischer und wirtschaftsorientierter Ansatz vor. So fand die Arbeit der UNESCO zur Förderung des Konzepts des lebenslangen Lernens laut dem 1972 veröffentlichten Faure-Bericht kein Gehör. Die Erwachsenenbildung galt weiterhin eher als Investition in eine marktorientierte kapitalistische Wirtschaft und nicht als Beitrag, um das individuelle Potenzial von Menschen und deren Entwicklung zu aktiven Bürger/-innen einer demokratischen Gesellschaft zu fördern, geschweige denn die Gesellschaft zu transformieren. Der 2021 erschienene UNESCO-Bericht «Embracing a culture of lifelong learning» («Eine Kultur des lebenslangen Lernens schaffen») enthielt zehn Kernbotschaften wie beispielsweise den Aufruf, lokale Initiativen für lebenslanges Lernen einschliesslich lernender Städte kurz- und langfristig zu fördern und zu unterstützen.

Berufliche Fertigkeiten

Das Internationale Arbeitsamt erklärte bereits 1962 in seiner Empfehlung 117 zur beruflichen Bildung: «Bildung ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um die beruflichen Fähigkeiten einer Person zu entwickeln.» Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) ihrerseits erklärte 1975 im Übereinkommen 142 über die Erschliessung des Arbeitskräftepotenzials: «Jedes Mitglied hat seine Berufsbildungssysteme schrittweise auszubauen, anzupassen und aufeinander abzustimmen, um den Bedürfnissen der Jugendlichen und Erwachsenen während ihres ganzen Lebens gerecht zu werden.»

Im Bericht «Recurrent Education. A Strategy for Lifelong Learning» («Wiederkehrende Bildung. Eine Strategie für lebenslanges Lernen») von 1973 legte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) den Schwerpunkt darauf, dass das Lernen in Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit stehen sollte. Im OECD-Bericht «Bildung, Trends, Zukunft 2019» hiess es: «In einer komplexen, sich rasch wandelnden Welt kann es erforderlich sein, den Rahmen für formelles und informelles Lernen neu zu organisieren und Bildungsinhalte sowie Bildungsangebote neu zu konzipieren. Angesichts der demografischen Entwicklung dürfte es dabei nicht nur um Veränderungen in der Ausbildung gehen, sondern auch um lebenslanges Lernen.»

Berufliche Weiterbildung

Illustration von Solange Herman
Illustration von Solange Herman, Atelier für Drucktechnik, Centro scolastico per le industrie artistiche (CSIA), Lugano
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In Frankreich führten die sozialen Bewegungen Ende der 1960er-Jahre zum Gesetz über die berufliche Weiterbildung («Loi Delors») im Jahr 1971. Ihm lag der Gedanke zugrunde, dass es dem Staat obliegt, das System zu organisieren, es aber Sache seiner Partner wie der Universitäten oder Unternehmen ist, Bildungswege anzubieten. Die berufliche Weiterbildung wurde neben der allgemeinen Volksbildung, der sozialen Förderung und der Produktivität der Unternehmen als eine der Säulen des lebenslangen Lernens verankert.
 

Auf europäischer Ebene zeichnete sich mit der Veröffentlichung des Weissbuchs «Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft» im Jahr 1995 ein Wendepunkt ab. Das Buch kündigte das europäische Jahr des lebensbegleitenden Lernens 1996 an, fasste die Herausforderungen der staatlichen Politik zusammen und formulierte fünf Ziele: den Erwerb neuer Kenntnisse fördern, Schule und Unternehmen näher zusammenbringen, Ausgrenzung bekämpfen, drei europäische Sprachen beherrschen sowie materielle und bildungsspezifische Investitionen gleichbehandeln.

Im Jahr 2000 fand das Konzept seine Fortsetzung im Rahmen der Lissabon-Strategie. Lebenslanges Lernen (LLL) wurde laut Éric Verdier «zu einem Schlüsselinstrument für die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, die Innovation und sozialen Zusammenhalt verbinden muss». Je nach Region und Land wurde LLL unterschiedlich umgesetzt, zugleich war es jedoch der politische Wille, einen europäischen Rahmen für Innovation und sozialen Zusammenhalt zu entwickeln.

Weiterführende Koordination in der Schweiz

Die Schweizerische Vereinigung für Erwachsenenbildung – heute Schweizerischer Verband für Weiterbildung (SVEB) – wurde 1951 von der Migros-Klubschule, den Volkshochschulen, dem Genossenschaftsseminar von Coop, dem kirchlichen Bildungszentrum und vier weiteren Partnern gegründet. Sie setzt sich für den Ausbau des lebenslangen Lernens ein.

Im Zuge der Arbeiten am Bundesgesetz über die Berufsbildung, das 2004 in Kraft trat, wurden die Forderungen nach mehr Anerkennung der Weiterbildung deutlich. Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK) veröffentlichte 2003 Empfehlungen für die Aufwertung und den Ausbau der Erwachsenenbildung. Die ersten kantonalen Gesetze hatten Bern (1990), Freiburg (1998), Tessin (1998), Genf (2001) und das Wallis (2001).

Mit den Reformen der Bundesverfassung von 1996 und 2006 wurden das Bildungssystem im Land harmonisiert, die Hochschulbildung koordiniert und die Weiterbildung als Teil des nationalen Bildungssystems anerkannt. Das Bundesgesetz über die Weiterbildung, das 2017 in Kraft getreten ist, bekräftigt die Eigenverantwortung des Einzelnen, bestätigt die Existenz eines wettbewerbsorientierten Bildungsmarktes, erfasst die Vermittlung von Grundkompetenzen für Erwachsene und hält die formale Bildung dazu an, die Errungenschaften des nicht formalen und informellen Lernens zu berücksichtigen.

Eine rentable Investition

Illustration von Nicole Sapienza
Illustration von Nicole Sapienza, Atelier für Drucktechnik, Centro scolastico per le industrie artistiche (CSIA), Lugano
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In den 1980er- und 1990er-Jahren stand die Weltbank unter dem Einfluss von Studien, denen zufolge Investitionen in die Primarschulbildung die höchsten Renditen aufweisen. Neuere OECD-Studien deuten darauf hin, dass die höchsten Renditen bei der tertiären Bildung zu verzeichnen sind.
 

Heutzutage ist das Konzept des lebenslangen Lernens eng mit der Entwicklung von Arbeitsprozessen und der Anpassung der Unternehmen verknüpft. In den Zielen für eine nachhaltige Entwicklung laut der UNO-Agenda 2030 spielt es eine wichtige Rolle, um die Bevölkerung und die Unternehmen dabei zu unterstützen, die Digitalisierungsprozesse im Alltag zu bewältigen. Die Weltgesundheits­organisation (WHO) stützt sich in ihrer unter dem Titel «Gesundheit 2020: Bildung und Gesundheit im gesamten Lebensverlauf» veröffentlichten Strategie auf die Synergien zwischen dem Gesundheitswesen und dem Konzept des lebenslangen Lernens.

Die Entwicklung des Begriffs spiegelt die Entwicklung des Lernens wider

Der Begriff «Lernen» verdrängt nach und nach die Begriffe «Bildung» oder «Ausbildung» im Laufe des Lebens. Diese semantische Verschiebung deutet an, dass die individuelle Verantwortung anstelle der staatlichen mehr Gewicht erhält.

Ein Mensch lernt in jedem Alter – durch die eigene Entwicklung in seiner Umwelt, den Austausch mit seinen Mitmenschen und sein Bestreben, den Sinn seines Lernwegs innerhalb und ausserhalb von Bildungs- und Ausbildungssystemen zu hinterfragen. Dabei gilt es laut Gabriella Aleandri, den gesamten Kontext zu berücksichtigen, in dem die oder der Einzelne lebt.

Ein Mensch lernt in jedem Alter – durch die eigene Entwicklung in seiner Umwelt, den Austausch mit seinen Mitmenschen und sein Bestreben, den Sinn seines Lernwegs zu hinterfragen.

Wie die jüngsten Berichte der UNESCO, der OECD und der WHO belegen, erfordert lebenslanges Lernen verschiedene Voraussetzungen: die Zusammenarbeit zwischen Regierungsstellen, eine feinere Abstimmung zwischen Erstausbildung und Weiterbildung, die Personalisierung und Individualisierung von Bildungswegen, die Vereinbarkeit von Arbeit, Familie, Ausbildung und dem Engagement als Bürger/-in, eine höhere Durchlässigkeit im Bildungssystem und den Ausbau von Instrumenten, um erworbene Kenntnisse anzuerkennen und zu validieren.

Weiterführende Lektüre

Referat des Soziologen Vincent Merle, Professor am Conservatoire national des arts et métiers in Paris: «Apprendre tout au long de la vie : pourquoi, comment ?» («Lebenslanges Lernen: Warum, wie?»), das er am 27. April 2006 im Rahmen von «Les points de vue dʼacteurs» («Ansichten von Akteuren») des Weltkomitees für lebenslanges Lernen (CMA) gehalten hat.

cma-lifelonglearning.org/poly/ (in Französisch)

Literatur

Aleandri, G. (2011). Educazione permanente nella prospettiva del lifelong e lifewide learning. Armando.

Condorcet, N. (1847). Cinq mémoires sur l’instruction publique. In: A. Condorcet O’Connor & Arago, M. F. OEuvres de Condorcet. Tome septième. Firmin Didot Frères. https://cutt.ly/0IoHrqL

De la formation au projet de vie (2015). Les Grands Dossiers des Sciences Humaines, Décembre-janvier-février (41), 1–84.

Elfert, M. (2019). Lifelong Learning in Sustainable Development Goal 4: What Does It Mean for UNESCO’s Rights-Based Approach to Adult Learning and Education? In: International Review of Education 65, 537–556. https://doi.org/10.1007/s11159-019-09788-z

Jacotot, J. (1841). Enseignement universel. Langue maternelle. Paris, Siège de l’école de Jacotot. https://cutt.ly/nIo1sld

Kant, I. (1784). Was ist Aufklärung? In: Gedicke, F. & Biester, J. E. «Berlinische Monatsschrift», Berlin: Haude und Spener, 481–494.

Kern, D. (2018). Kapitel 9. L’éducation et les adultes dans la seconde moitié de la vie. In: Les sciences de l’éducation, une culture pluridisciplinaire, 181–198. De Boeck Supérieur. https://doi.org/10.3917/dbu.nal.2018.01.0181

Verdier, É. (2008). L’éducation et la formation tout au long de la vie : une orientation européenne, des régimes d’action publique et des modèles nationaux en évolution. Sociologie et sociétés, 40(1), 195–225. https://doi.org/10.7202/019478ar