Was hinter der unterschiedlichen Praxis steckt

Wer sich für ein Studium an höheren Fachschulen interessiert, steht in der Regel mit beiden Beinen im Leben und verfügt über Berufserfahrung. Doch nicht überall wird dieser Bildungs- und Erfahrungsschatz in gleicher Weise anerkannt. Wenn es um die Zulassung zum Studium oder eine verkürzte Studiendauer geht, wird es mit der Anrechnung von Bildungsleistungen an den höheren Fachschulen schnell einmal kompliziert.

violette Menschen stehen auf grünen Straßen auf gelbem Hintergrund
Illustration von Xenia Grange, erstes Lehrjahr Fachklasse für Grafik, Schule für Gestaltung und Hochschule für Kunst Wallis
EHB

Von Sonja Engelage, Carmen Baumeler, Christine Hämmerli und Patrizia Salzmann

Eine Berufsbildung, die auf das lebenslange Lernen ausgerichtet ist und Modelle dafür, wie sich bisher Geleistetes an neue Ausbildungen anrechnen lässt: Das sind zwei wichtige bildungspolitische Ziele von Bund und Kantonen. Die Anrechnung von bereits erworbenen Fähigkeiten und Kompetenzen, sogenannten Bildungsleistungen, soll die soziale und wirtschaftliche Integration der einzelnen Personen erleichtern. Sie ist wichtig, um ihnen Chancen für die weitere Bildungskarriere zu eröffnen und berufliche Mobilität zu ermöglichen. Zugleich soll eine offenere Anrechnungspraxis dazu beitragen, die Potenziale im Bildungssystem besser nutzen zu können, insbesondere um so den Fachkräftemangel zu entschärfen.

Es geht dabei nicht nur um formales Wissen, das jemand in Form von zertifizierten Bildungsabschlüssen erworben hat, sondern auch um Kurse, Weiterbildungen und Seminare als sogenannte nichtformale Formen des lebenslangen Lernens und nicht zuletzt auch um das informell Gelernte, also die Berufs- und Lebenserfahrung, die jemand hat (siehe Abbildung). Zwar sind die gesetzlichen Grundlagen dafür in der Schweiz vorhanden, doch insbesondere die Anrechnung von Weiterbildung und informeller Bildung wird noch nicht im gesamten Bildungssystem umgesetzt.

Formen des lebenslangen Lernens

Formales Lernen


Zum Beispiel Abschluss
• der Sekundarstufe
• der Tertiärstufe B (eidgenössischer Fachausweis, eidgenössisches Diplom, Diplom höhere Fachschule)
• der Tertiärstufe A (Bachelor, Master, PhD)

Nichtformales Lernen


Zum Beispiel
• Kurse
• Seminare
• Weiterbildungen an Hochschulen (Certificate of Advanced Studies CAS, Diploma of Advanced Studies DAS und Master of Advanced Studies MAS)

Informelles Lernen


Zum Beispiel
• am Arbeitsplatz
• im Familienkreis oder in der Freizeit
• ehrenamtliche Tätigkeiten

Auf der Stufe der höheren Fachschulen (HF) haben die einzelnen Bildungsanbieter viel Spielraum, wenn es darum geht, über die Anrechnung von Bildungsleistungen zu entscheiden. Dies führt dazu, dass sich die Praktiken von Bildungsgang zu Bildungsgang unterscheiden. Folglich ist es schwierig, einen Überblick über die tatsächlichen Anrechnungsmöglichkeiten zu erhalten.

Die Grundlagen erforscht

In einer vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI in Auftrag gegebenen Studie «Anrechnungspraxis von Bildungsleistungen an höheren Fachschulen» untersuchten Forschende der EHB, welche gesetzlichen Vorgaben in Bezug auf die Anrechnung existieren und wie diese von HF interpretiert und umgesetzt werden.

Um einen Überblick über formale Anrechnungsgrundlagen an HF zu gewinnen, analysierten die Forschenden alle national gültigen Regelwerke. Dazu gehören die Verordnung über Mindestvorschriften für die Anerkennung von Bildungsgängen und Nachdiplomstudien der höheren Fachschulen (MiVo-HF) sowie die Rahmenlehrpläne. Um möglichst die gesamte Heterogenität an unterschiedlichen Anrechnungspraktiken zu identifizieren, wählten sie daraufhin insgesamt 13 Bildungsgänge aus, die an unterschiedlichen höheren Fachschulen in verschiedenen Sprachregionen der Schweiz angeboten werden. Zu diesen analysierten sie die schulinternen Reglemente. Qualitative Interviews mit den Verantwortlichen gaben zudem Aufschluss dazu, wie die Anrechnung von Bildungsleistungen aktuell umgesetzt wird und wie diese Praxis begründet wird.

Grosser Handlungsspielraum

Es zeigte sich, dass die MiVo-HF nur die Zulassung zu den Bildungsgängen regelt und ansonsten auf die Rahmenlehrpläne verweist. Um Kriterien für die Anrechenbarkeit von Bildungsleistungen zu definieren, lassen diese den einzelnen HF grossen Handlungsspielraum. Insbesondere in Bezug auf die Anrechnung nichtformal und informell erworbener Kompetenzen ist nur wenig geregelt. Auch die Regelung von Verfahren ist primär Sache der Bildungsanbieter.

Es erstaunt daher nicht, dass diese weitgehende Delegation an die Schulen mit einer grossen Heterogenität einhergeht. Dies sowohl, was die Anrechnungsprozesse als auch was die Definition der Kriterien für die Anrechenbarkeit angeht. In einigen schulinternen Dokumenten sind die Zulassungsvoraussetzungen und -verfahren detailliert geregelt, ebenso die Kriterien für die Anrechenbarkeit von Bildungsleistungen. Zudem gibt es für die Studierenden Informationen zum Anrechnungsverfahren. An anderen Schulen ist hingegen wenig schriftlich geregelt. Zudem sind diese Angaben nicht an allen Schulen öffentlich zugänglich, was es den Studierenden erschwert, sich ein Bild von den Anrechnungsmöglichkeiten zu machen.

Die Interviews mit den Verantwortlichen der Bildungsgänge zeigten grosse Unterschiede auf. Erstens werden internationaler Ebene wenig Anrechnungsmöglichkeiten. Das ist zum Beispiel für den Bildungsgang Verkehrspilot:in HF der Fall, wo Flugstunden mit Hinweis auf Qualitäts- und Sicherheitsstandards kaum angerechnet werden. Drittens bestehen Unterschiede bei der Frage, welche Bildungsleistungen angerechnet werden können und wie die Anrechnungsverfahren konkret ablaufen.

Vor allem formale Abschlüsse zählen

violette Personen stehen auf violetten Büchern auf gelbem Hintergrund
llustration von Nadège Garcia, erstes Lehrjahr Fachklasse für Grafik, Schule für Gestaltung und Hochschule für Kunst Wallis
EHB

Die Ergebnisse zeigen, dass HF vor allem bereits erworbene formale Abschlüsse anrechnen. Nichtformale oder informelle Bildungsleistungen werden kaum anerkannt. Berufserfahrung wird in der Regel in Form von Berufsjahren gezählt. Erworbene Kompetenzen werden, etwa in Validierungsverfahren, kaum überprüft.

Interessant ist, dass es auch grosse Unterschiede zwischen gleichen Bildungsgängen an unterschiedlichen HF gibt, die auf denselben nationalen Regelungen basieren. So zeigt der Vergleich von zwei Bildungsgängen Hotellerie und Gastronomie, dass eine HF häufig Dispensationen vom Studium bewilligt und dabei auch nichtformale Bildungsleistungen berücksichtigt, während die andere HF kaum etwas ans Studium anrechnet.

Formen der Anrechnung von Bildungsleistungen an höheren Fachschulen

Bei der Zulassung


• Zulassung von Personen, welche die regulären Zulassungsbedingungen nicht erfüllen
• Dispensation von Teilen der Eignungsabklärung

Während des Studiums


• Dispensation von Teilen der theoretischen und/oder praktischen Ausbildung
• pauschale Verkürzung der Studiendauer (zum Beispiel direkter Einstieg in höhere Semester)

Solche unterschiedlichen Anerkennungspraxen lassen sich unter anderem mit dem pädagogischen Verständnis derjenigen Personen erklären, die die Anerkennungsverfahren durchführen. Im ersten Bildungsgang ist dieses individualistisch geprägt, im zweiten hingegen stark darauf ausgerichtet, in der Klasse zu unterrichten und zu lernen.

Sollen Studierende mit unterschiedlichem Erfahrungshorizont im Unterricht voneinander lernen, kann das als Argument dafür verwendet werden, Dispensationen aufgrund von Vorerfahrungen eher nicht zu gewähren. Als Gegenargument gilt, dass Studierende keine Zeit verlieren sollen mit Bildungsinhalten, die sie sowieso schon können. In dieser Logik ist die Anrechnung von Bildungsleistungen sehr wünschenswert. So wird zum Beispiel einem gelernten Koch oder einer gelernten Köchin an der ersten HF ein verkürzter Studiengang angeboten. An der zweiten HF muss dieselbe Person trotz ihrer vertieften Berufskenntnisse am Semester Küchenproduktion teilnehmen, damit die anderen Studierenden von ihrer Berufserfahrung profitieren können.

Vielfältige Argumente

HF wägen in der Praxis genau ab, ob – und wenn ja, welche – Studierende zu einem Bildungsgang zugelassen werden und was ihnen angerechnet wird. Motive für die Anrechnung von Bildungsleistungen können sein, dass sich so die Studierendenzahlen erhöhen lassen oder dass die Konkurrenzfähigkeit der HF gegenüber anderen HF erhalten bleibt. Auch eine gewisse Dienstleistungsorientierung gegenüber den Studierenden und den Betrieben kann eine Rolle spielen. Der hohe zeitliche und finanzielle Aufwand für die individuellen Verfahren spricht wiederum eher gegen diese. Einige sehen die rechtlichen Vorgaben als Anstoss dafür, die Möglichkeiten für die Anrechnung von Bildungsleistungen zu nutzen. Diese Grundlagen können sich aber auch als hinderlich erweisen, wenn etwa wie bei den Verkehrspilotinnen und Verkehrspiloten aufgrund hoher Sicherheitsstandards restriktive Reglementierungen bestehen.

Die Rahmenbedingungen und Entwicklungen im Bildungssystem, zum Beispiel die Tendenz zu modularisierten Bildungsgängen und ausdifferenzierteren Bildungsangeboten sowie die Anrechnungspraxis auf anderen Bildungsstufen, werden von den Verantwortlichen genau beobachtet und im Hinblick auf die Möglichkeiten an den HF bewertet.

Ein weiteres Motiv dafür, Bildungsleistungen anzurechnen, ist je nach Fachbereich auch der Mangel an qualifizierten Fachkräften. Durch die Anrechnung von formal, aber insbesondere auch nichtformal und informell erworbenen Kompetenzen werden die vorhandenen Potenziale im Bildungssystem besser genutzt und dem Arbeitsmarkt stehen schneller qualifizierte Fachkräfte zur Verfügung. Insofern erfüllen die Bildungsanbieter hier auch einen gesellschaftlichen Auftrag.

Mehr Transparenz für die Studierenden

viel bunte Häuser die mit Treppen verbunden sind
Illustration von Luca Fucile, erstes Lehrjahr Fachklasse für Grafik, Schule für Gestaltung und Hochschule für Kunst Wallis
EHB

Auf nationaler Ebene ist bisher kein Prozess zur Anrechnung von Bildungsleistungen an HF definiert. Es gibt keine fixen Anrechnungsformen, wie dies in der beruflichen Grundbildung der Fall ist. Entsprechend sind die Bildungsanbieter selbst gefordert, Zulassungs- und Anrechnungsverfahren zu regeln und Kriterien für die Anrechenbarkeit zu definieren. Manche HF nehmen sich des Themas aktiv an, andere haben sich damit bislang kaum auseinandergesetzt.

Verbesserungspotenzial besteht durchaus, etwa bei der Transparenz und Zugänglichkeit der Informationen für Studierende. Diese sollten sich auf den Webseiten der HF über die Anrechnungsmöglichkeiten und die Anrechnungsverfahren informieren können, um auch aufgrund dieses Kriteriums über ein HF-Studium entscheiden zu können.

Zudem besteht bei der Anerkennung von nichtformal und informell Gelerntem durchaus noch Luft nach oben. Eine Folgestudie, die auf einer nationalen Fragebogenerhebung aller HF in der Schweiz beruht, wird darüber hinaus weitere mögliche Implikationen für die Praxis aufzeigen.

Die Studie der EHB hat die verschiedenen Anrechnungsverfahren und Argumente für und wider die Anrechnung an HF sichtbar gemacht. Das ermöglicht allen HF, sich mit diesem Zukunftsthema auseinanderzusetzen, ihre Positionen zu reflektieren, ihr Profil zu schärfen undvoneinander zu lernen. Für die Studierenden eröffnen sich so weitere Möglichkeiten, ihre Berufswege mit individuellen Voraussetzungen und Zielen zu optimieren

Literatur

  • Baumeler, C., Engelage, S., Hämmerli, C. & Salzmann, P. (2022). Recognition of Prior Learning in Professional Education from an Organizational Perspective. Unveröffentlichtes Manuskript.
  • Klingovski, U. ; Schmid, M. (2018). Validieren und Anerkennen. Informell erworbene Kompetenzen sichtbar machen – eine Auslegeordnung für die Schweiz. Bern: hep.
  • Salzmann, P., Hämmerli, C., Baumeler, C., Engelage, S., Deschenaux, A. ; Salini, D. (2021). Anrechnungspraxis von Bildungsleistungen an höheren Fachschulen. Zwischenbericht. Zollikofen: EHB.
  • Salzmann, P., Hämmerli, C., Deschenaux, A., Cortessis, S. ; Salini, D. (2020). Stand der Umsetzung der Anrechnung von Bildungsleistungen in der beruflichen Grundbildung. Bericht. Zollikofen: EHB.