Die Schweiz geht ihren eigenen Weg

Ein Vergleich der Berufsbildungssysteme in Europa zeigt: Diese unterscheiden sich markant. Auf ein starkes duales Berufsbildungssystem, wie es die Schweiz kennt, setzen nur wenige Länder. Der Ausgangspunkt dafür, dass sich verschiedene Systeme etabliert haben, waren unterschiedliche wirtschaftliche, kulturelle und politische Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert. Je nach System stehen die Länder anderen Herausforderungen und Spannungsfeldern gegenüber, wie ein Blick in die Niederlande, nach Frankreich und nach Grossbritannien verdeutlicht.

Zuggleise
Illustration von Jeannot Vonlanthen, erstes Studienjahr Höhere Fachschule für Comic und Illustration in Genf
EHB

Von Miriam Hänni und Irene Kriesi

Ein bis zwei Tage pro Woche in der Berufsfachschule, drei bis vier Tage im Betrieb und regelmässig in überbetrieblichen Kursen: So sieht in der Schweiz das Standardmodell für die knapp zwei Drittel der Jugendlichen aus, die mit einer dualen Berufslehre beginnen. Im internationalen Vergleich stellt dieses schweizerische Standardmodell einen Spezialfall dar, wie auch der neuste Trendbericht des Schweizerischen Observatoriums für die Berufsbildung OBS EHB zeigt.

Grafik duale Ausbildung Europa

In vielen europäischen Ländern ist die duale Berufsbildung deutlich weniger stark verbreitet als hierzulande. Dort absolvieren Jugendliche entweder eher eine allgemeinbildende Mittelschule (horizontale Achse der Abbildung) oder die Berufsbildung ist viel häufiger rein schulisch organisiert als bei uns (vertikale Achse der Abbildung).

 

In der Gruppe der Länder, die der Allgemeinbildung eine hohe Bedeutung zuschreiben (linke Seite der Abbildung), gibt es unterschiedliche Formen der Berufsbildung: In Schweden und Frankreich zum Beispiel wird diese primär schulisch vermittelt, in Ländern wie Irland und Dänemark vor allem dual.

In der Gruppe der Länder mit einer starken Berufsbildung (rechte Seite der Abbildung) dominiert hingegen die schulische Ausbildungsform, so beispielsweise in Finnland oder den Niederlanden. Einzig die Schweiz verbindet eine hohe Berufsbildungsquote mit einem hohen Anteil dualer Ausbildungen.

Drei verschiedene Systemtypen etablierten sich

Bis ins 18. Jahrhundert war die Berufsbildung in Zünften organisiert und beschränkte sich auf handwerkliche Berufe. Erlernt wurden diese ausschliesslich im Betrieb. Seit dem Ende des Zunftwesens haben sich im 19. und 20. Jahrhundert die verschiedenen europäischen Länder wirtschaftlich, politisch und kulturell unterschiedlich entwickelt. Entsprechend haben sich drei verschiedene Typen von Berufsbildungssystemen etabliert. Sie unterscheiden sich in Bezug auf die Rollen, die der Staat und die Wirtschaft übernehmen, um die Berufsbildung zu organisieren, zu finanzieren und zu kontrollieren.1,2

In kollektiven Berufsbildungssystemen organisieren und finanzieren der Staat, die Wirtschaft und Berufsverbände die Berufsbildung gemeinsam. Sie ist zudem mehrheitlich betrieblich organisiert. Die Abschlüsse sind berufsspezifisch, standardisiert und national anerkannt. Als kollektive Berufsbildungssysteme gelten typischerweise diejenigen der Schweiz, Deutschlands und Österreichs. Auch die Berufsbildung der Niederlande wird dazu gezählt, obwohl sie mehrheitlich schulisch organisiert ist.

Im liberalen Marktmodell führt die berufliche Ausbildung zu keinen allgemein anerkannten Abschlüssen. Lernende tragen durch Studiengebühren und Kurskosten stärker zu ihrer Ausbildung bei als in anderen Systemen.

In staatszentrierten Berufsbildungssystemen ist die Berufsbildung vorwiegend in Form von Fachschulen organisiert und wird durch den Staat gesteuert und finanziert. Typische Beispiele hierfür sind Frankreich und Schweden. Lernende schliessen mit staatlichen Zertifikaten ab, die den Besuch weiterführender Schulen ermöglichen.

Im liberalen Marktmodell wird die Berufsbildung stark von der Wirtschaft gesteuert und ist wenig staatlich reglementiert. Die berufliche Ausbildung findet an diversen Lernorten statt und führt zu keinen allgemein anerkannten Abschlüssen. Lernende tragen durch Studiengebühren und Kurskosten stärker zu ihrer Ausbildung bei als in anderen Systemen. Typische Beispiele für das Marktmodell sind Grossbritannien und die USA.

Die Niederlande: vier grosse Berufsfelder

eine Person auf einem laufenden Stuhl in den Wolken
Illustration von Zélia Duc, erstes Studienjahr Höhere Fachschule für Comic und Illustration in Genf
EHB

Das Beispiel der Niederlande zeigt, dass die kollektive Berufsbildung auch andere Formen kennt als in der Schweiz und in Deutschland, die als Prototypen für dieses System gelten. Wie in der Schweiz absolvieren in den Niederlanden rund zwei Drittel der jungen Erwachsenen eine Berufsausbildung, die mit national standardisierten Diplomen abgeschlossen wird. Die verbundpartnerschaftliche, kollektive Beteiligung von Gewerkschaften und Arbeitgebern an der Berufsbildung stellt sicher, dass die Ausbildungsinhalte auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes abgestimmt sind. Anders als in der Schweiz ist die Berufsbildung jedoch mehrheitlich schulisch organisiert. Zudem ist sie nicht in viele verschiedene Berufe unterteilt, sondern in vier grosse Berufsfelder: Grün/Landwirtschaft, Technologie, Wirtschaft und Gesundheit/Soziales.

Ähnlich wie in der Schweiz steht die Berufsbildung in den Niederlanden aufgrund ihrer grossen Bedeutung vor der Herausforderung, sowohl leistungsschwache als auch leistungsstarke Lernende zu integrieren. 

Die Abschlüsse der einzelnen Felder qualifizieren für unterschiedliche Berufe und sind nicht berufsspezifischer als andere Ausbildungsgänge.Dadurch sind zwar die Ausbildung und die zugänglichen Berufe weniger genau aufeinander abgestimmt, dafür erhöht sich für die Absolvierenden die Flexibilität, da sie in verschiedenen Berufen gute Beschäftigungschancen haben. Zudem gewährleisten die Abschlüsse, dass es möglich ist, sich im Anschluss weiterführend zu qualifizieren. Ähnlich wie in der Schweiz steht die Berufsbildung in den Niederlanden aufgrund ihrer grossen Bedeutung vor der Herausforderung, sowohl leistungsschwache als auch leistungsstarke Lernende zu integrieren.4

Frankreich: der Kampf um mehr Prestige

Bunte Klötze mit Sprechblasen auf weissem Hintergrund
Illustration von Arthur Pilet, erstes Studienjahr Höhere Fachschule für Comic und Illustration in Genf
EHB

Ein typisches Beispiel für ein Land mit einem etatistischen, staatszentrierten Berufsbildungssystem ist Frankreich, wo rund ein Drittel der Jugendlichen auf der Sekundarstufe II eine Berufsausbildung absolvieren. Der Staat und die regionalen Behörden steuern die überwiegend schulisch organisierte Berufsbildung. Der Wirtschaft und den Sozialpartnern kommt im Vergleich zu kollektiven Systemen eine untergeordnete Bedeutung zu. Sie werden lediglich als beratende Gesprächspartner konsultiert, um beispielsweise Qualifikationsanforderungen zu erarbeiten. Zudem nehmen sie in den Prüfungskommissionen Einsitz und finanzieren die Berufsbildung mit einer Ausbildungssteuer mit. In der beruflichen Grundbildung werden zwei Niveaustufen unterschieden, die zu nationalen Zertifikaten in 100 respektive 180 Fachrichtungen führen und jeweils die Anschlussfähigkeit an die Tertiärstufe garantieren.

Da im französischen Bildungssystem dem Baccalaureat – also der Matura – eine überragende Bedeutung zukommt, kämpft die Berufsbildung mit mangelndem gesellschaftlichem Prestige.4

Grossbritannien: wenig Standardisierung im Marktmodell 

In marktgesteuerten Berufsbildungssystemen wie demjenigen Grossbritanniens agiert der Staat viel zurückhaltender als in staatszentrierten oder kollektiven Systemen. Die Berufsbildung wird als Teil der Weiterbildung junger Erwachsener verstanden. Auf der Sekundarstufe II absolvieren rund 45 Prozent der Lernenden einen beruflichen Ausbildungsgang. Angeboten werden sowohl Ausbildungsgänge in allgemeinbildenden Schulen mit beruflichen Elementen, breite schulische Berufsbildungsprogramme als auch sehr berufsspezifische betriebliche Programme.

Berufsbildungsprogramme können in Voll- oder in Teilzeit besucht werden. Die Niveauunterschiede zwischen den verschiedenen Angeboten sind erheblich. Die verschiedenen Berufsabschlüsse sind zudem national nicht standardisiert. Die Kombination verschiedener Anbieter und Ausbildungsformen sowie die fehlende Standardisierung führen zu einer starken Fragmentierung der Berufsbildung. Im Gegensatz zu den anderen Systemtypen ist die Anschlussfähigkeit an die Tertiärstufe nicht institutionell geregelt, sondern hängt von den Zulassungsbedingungen der jeweiligen (Hoch-)Schule ab. Der niedrige Standardisierungsgrad der Berufsbildung erschwert es, die im Rahmen der Ausbildung vermittelten Qualifikationen auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes abzustimmen und die Arbeitgeber dafür zu gewinnen, sich in der Berufsbildung stärker zu engagieren.4

Wo die Vor- und Nachteile liegen

Nationale Bildungssysteme sollen es jungen Menschen ermöglichen, eine post-obligatorische Ausbildung zu machen. Zudem sollen sie Wissen und Fertigkeiten vermitteln, dank derer sich die Absolventinnen und Absolventen rasch in den Arbeitsmarkt integrieren können und die sie dazu befähigen, sich durch lebenslanges Lernen auch langfristig immer wieder an den technologischen und wirtschaftlichen Wandel anzupassen.

Ein Mann der auf einem Apfel, welcher von einem Pfeil durchbort ist, reitet.
Illustration von Félicien Crozat, erstes Studienjahr Höhere Fachschule für Comic und Illustration in Genf
EHB

Ob die unterschiedlich organisierten Berufsbildungssysteme diese Ziele unterschiedlich gut erfüllen, ist nur teilweise erforscht. Die meisten Studien dazu vergleichen die betrieblich und die schulisch organisierte Berufsbildung. Die Ergebnisse beziehen sich auf unterschiedliche Länder und zeigen erstens, dass betrieblich organisierte kollektive Berufsbildungssysteme stark darin sind, auch schulisch schwächere Jugendliche in die Sekundarstufe II zu integrieren und ihnen einen Abschluss zu ermöglichen.5  Zudem erleichtert der hohe Praxisanteil in der Ausbildung einen schnellen Arbeitsmarkteintritt und geht mit einer tiefen Jugendarbeitslosigkeit einher. Dieser Erwerbsvorteil ist allerdings oft kurzfristiger Natur und nach wenigen Jahren nicht mehr beobachtbar. 6 In Marktmodellen ist der Vorteil hoher Praxisanteile weniger deutlich, weil die fehlende Standardisierung den Informationswert der Abschlüsse für Arbeitgebende einschränkt. 7

Gesamthaft zeigt die Forschung, dass Bildungssysteme immer auch Zielkonflikte lösen müssen. In der Schweiz bezieht sich dies insbesondere auf das Spannungsfeld von kurzfristiger Arbeitsmarktintegration und langfristiger Laufbahnentwicklung.

Schulbasierte Berufsbildungssysteme vermitteln im Vergleich zur betrieblich organisierten Berufsbildung mehr transversale Kompetenzen, so beispielsweise Lese-, Mathematik-, Problemlöse-, Planungs-, IT- und kommunikative Kompetenzen. Deshalb befähigen sie die Absolventinnen und Absolventen in einem erhöhten Ausmass, sich an den veränderten Arbeitsmarktbedarf anzupassen und sich weiterzubilden. 8

Gesamthaft zeigt die Forschung, dass Bildungssysteme immer auch Zielkonflikte lösen müssen. In der Schweiz bezieht sich dies insbesondere auf das Spannungsfeld von kurzfristiger Arbeitsmarktintegration und langfristiger Laufbahnentwicklung. Einerseits ist es das Ziel der Berufsbildung, die jungen Menschen möglichst rasch und umfassend in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Andererseits ist es wichtig, ihnen das nötige Allgemeinwissen und die nötigen Grundkompetenzen zu vermitteln, damit sie dazu befähigt sind, sich weiterzuentwickeln und sich so auch im späteren Erwerbsleben immer wieder an veränderte Arbeitsmarktbedingungen anpassen zu können.

Literatur

1Busemeyer, M. & Trampusch, C. (Hrsg.) (2012). The Political Economy of Collective Skill Formation. Oxford, New York: Oxford University Press.

2Cedefop (2004). Von der Divergenz zur Konvergenz. Zur Geschichte der Berufsbildung in Europa. Europäische Zeitschrift für Berufsbildung, 32, 6–17.

3Forster, A. G., & Bol, T. (2018). Vocational Education and Employment over the Life Course Using a New Measure of Occupational Specificity. Social Science Research, 70, 176–197.

4Cedefop (2022). Vocational Education and Training in Europe. https://www.cedefop.europa.eu/en/tools/vet-in-europe/systems (letzter Zugriff am 20.4.2023).

5Birkelund, J. F., & van de Werfhorst, H. G. (2022). Long-term Labor Market Returns to Upper Secondary School Track Choice: Leveraging Idiosyncratic Variation in Peers’ Choices. Social Science Research, 102.

6Choi, S. J., Jeong, J. C., & Kim, S. N. (2019). Impact of Vocational Education and Training on Adult Skills and Employment: An Applied Multilevel Analysis. International Journal of Educational Development, 66, 129–138.

7Di Stasio, V., & van de Werfhorst, H. G. (2016). Why Does Education Matter to Employers in Different Institutional Contexts? A Vignette Study in England and the Netherlands. Social Forces, 95(1), 77–106.

8Chuan, A., & Ibsen, C. L. (2022). Skills for the Future? A Life Cycle Perspective on Systems of Vocational Education and Training. ILR Review, 75(3), 638–664.